Welche Rolle hat das KZ-Geschehen in Verkündigung und Seelsorge während meiner Amtszeit in Engerhafe gespielt?
Meine Amtszeit in Engerhafe begann am 1.3.1969 und endete am 31.7.1976. Das liegt jetzt über 40 Jahre zurück, und es kann sein, dass meine Erinnerung lückenhaft geworden ist.
Bis zum Antritt meines Dienstes in Engerhafe hatte ich noch nichts von der Existenz eines KZ in Engerhafe gehört. Meine Kindheit verbrachte ich in Timmel, Kr. Aurich, und seit 1947 in Neufirrel, Kr. Leer. Das Gymnasium habe ich in Leer besucht. Bis dorthin hatte sich die Existenz dieses Lagers in Engerhafe nicht herumgesprochen, auch sind mir keine Hinweise in der Presse bekannt geworden.
Schon während meiner Eingewöhnungsphase in Engerhafe war das KZ Gesprächsthema, denn die Nachbarn des Pfarrhauses waren auch die Nachbarn des KZ gewesen. Das Geschehen um das KZ lag 1969 erst 24 Jahre zurück. Natürlich haben nur solche Gemeindeglieder mit mir über das KZ gesprochen, die auch nach dieser Zeit noch ihre tiefe Betroffenheit und Abscheu über das Erlebte und Gesehene zum Ausdruck bringen wollten.
Als Standort des Lagers wurde mir das Kirchenland nördlich vom Pfarrhaus, begrenzt durch den Dodentwenter im Westen, den Achterumsweg im Norden und den Schulplatz im Osten beschrieben. Die Baracken, die noch einige Jahre nach dem Krieg Wohnzwecken dienten, waren inzwischen durch mehrere Eigenheime ersetzt worden.
Die Gespräche mit den Zeugen des KZ-Geschehens hatten zuweilen seelsorgerlichen Charakter, denn diejenigen, die über das Lagergeschehen sprachen, fühlten sich im Innern immer noch belastet, auch wenn sie persönlich nicht daran schuldig geworden waren. Manche berichteten von ihren bescheidenen und hilflosen Versuchen, das Schicksal der an Hunger und Entbehrung leidenden Häftlinge dadurch zu mildem, indem sie Lebensmittel über den Zaun warfen, was natürlich streng verboten war, und mit Androhung von Strafen beantwortet wurde. Sowohl die Kinder, die auf dem Schulplatz spielten, als auch die Konfirmanden, die im Pfarrhaus den Konfirmandenunterricht besuchten, hatten freie Einsicht in das Lager, das nur von einem Stacheldrahtzaun und tiefen Gräben umgeben war. Die Kinder sollen öfter ihr Schulbrot über den Zaun geworfen haben.
Im Archiv des Pfarrhauses entdeckte ich dann den Briefumschlag, der die Zettel enthielt, auf denen die Namen der täglich umgekommenen Häftlinge vermerkt waren, und für die der Totengräber die Gräber auszuheben hatte. Außerdem war noch eine Broschüre in Französisch mit einem grünen Umschlag vorhanden, die einen Bericht über das KZ Neuengamme enthielt. Da ich kein Französisch kann, blieb mir der Inhalt verschlossen. Dieses Heft war später nicht mehr auffindbar.
In der Aktenablage der Kirchengemeinde fand ich einen Briefwechsel von dem Vakanzvertreter während des 2. Weltkrieges, Pastor Janssen, Münkeboe, der von den Behörden Auskünfte über die Einrichtung dieses Lagers auf Kirchenland verlangte. Soweit ich mich erinnere, wurde er mit unbefriedigenden Antworten abgefunden.
Weiter gibt es eine Akte über Gedenkveranstaltungen an dem Friedhofsteil, in dem die Opfer begraben liegen, die nach dem Krieg stattgefunden haben. Es gab einen Verein oder eine Vereinigung von ehemaligen KZ-Häftlingen, die Mahnveranstaltungen durchführten, um die Bevölkerung mit dem, was hier geschehen war, bekannt zu machen. Gleichzeitig wurde aber auch Kritik daran geübt, dass die sich neu etablierende Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland wenig Interesse daran zeigte, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Die staatlichen Behörden deuteten diese Kritik als Angriff auf die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und sahen deren Existenz bedroht. Man beobachtete genau, was in den Gedenkveranstaltungen gesagt wurde, und beauftragte die Pastoren mit einer Aufsichts- und Zensurpflicht. Schließlich wurden diese Veranstaltungen verboten.
Das war der Stand der Dinge, als ich meinen Dienst in Engerhafe antrat. Es gab nur noch eine (erlaubte) Veranstaltung im Jahr, in der der Opfer des KZ gedacht wurde, das war der Volkstrauertag am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr im November. Bei der Vorbereitung auf diesen Tag wurden mir folgende Aufgaben oder Verhaltensweisen zugewiesen, von denen ich zunächst den Eindruck haben musste, es handele sich um längst geübte Gepflogenheiten.
Zu Beginn des Gottesdienstes wurden von den Vertretern der Gemeinde Oldeborg und des Kirchenvorstandes Engerhafe vier Kränze in die Kirche getragen und vor dem Altar niedergelegt. Diese Vertreter nahmen auf den vorderen Plätzen des Gestühls Platz und nahmen am Gottesdienst teil. Die Beteiligung von Gemeindegliedern an der Gestaltung des Gottesdienstes war damals noch nicht üblich, also lag die gesamte Gestaltung nach Form und Inhalt bei mir (und dem Kirchenmusiker). Der Predigt lag der vorgeschriebene Predigttext zugrunde, anhand dessen ich auf den Kasus des Volkstrauertages einging, wobei auch auf die Untaten des NS-Regimes eingegangen wurde.
Nach Beendigung des Gottesdienstes wurden die Kränze wieder aus der Kirche herausgetragen, und die Gemeindeglieder (mit dem Posaunenchor) nahmen bei dem Denkmal für die Gefallenen beider Weltkrieg neben dem Glockenturm Aufstellung. Nun war es meine Aufgabe, eine Ansprache zu halten. Es wäre zu erwarten gewesen, dass an dieser Stelle ein Vertreter der politischen Gemeinde Oldeborg gesprochen hätte, aber mir wurde zu verstehen gegeben, dass es ausschließlich meine Aufgabe sei, hier zu sprechen. Da ich aber schon im Gottesdienst die Predigt gehalten hatte, sah ich davon ab, hier vor denselben Teilnehmern eine weitere, „weltliche“ Ansprache zu halten. Ich verlas daher an dieser Stelle die offiziellen Worte des Gedenkens, wie sie vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge herausgegeben worden sind, und deren Verlesung durch den Bundespräsidenten bis heute fester Bestandteil der Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages am Volkstrauertag ist. Danach wurden die Kränze niedergelegt, und zwar je ein Kranz der politischen Gemeinde Oldeborg und ein Kranz der ev.-Iuth. Kirchengemeinde Engerhafe am Denkmal für die Gefallenen und auf dem Friedhof mit den Opfern des KZ. Anschließend spielte der Posaunenchor das Lied vom „Guten Kameraden“, und damit war die Gedenkfeier beendet.
Die Besonderheit in Engerhafe war also, daß kein Politiker dort das Wort ergreifen wollte, und diese Aufgabe und Verpflichtung allein dem Pastoren überlassen blieb. Während meiner gesamten Amtszeit in Engerhafe hatte ich abwechselnd und zum Teil gleichzeitig die Vakanzvertretung für die Kirchengemeinden Münkeboe-Moorhusen, Wiegboldsbur und Forlitz-Blaukirchen. Ich hatte daher jeden Sonntag zwei Gottesdienste hintereinander zu halten, so auch am Volkstrauertag. So war ich z. B. um 9 Uhr in Münkeboe, und begab mich dann so schnell ich konnte, nach Engerhafe. In Münkeboe fand die Kranzniederlegung statt, während ich bereits unterwegs nach Engerhafe war. Die Reden wurden von den Vertretern der politischen Gemeinden Münkeboe und Moorhusen gehalten. Ebenso geschah es in Wiegboldsbur und in Forlitz-Blaukirchen (wie in vielen anderen Gemeinden auch). Wo Pastoren die Ansprachen an den Denkmälern für die Gefallenen zu halten hatten, kam es im Laufe der Jahre vereinzelt zu provokanten Aktionen seitens der jungen Pastoren, die auf Grund ihrer Prägung durch die sogenannte 68er- Bewegung, aber noch mehr durch die Antikriegs- und Friedensbewegung mit der herkömmlichen Gestaltung bewusst brechen wollten (z. B. in Simonswolde).
Die Situation war in Engerhafe insofern anders, als hier mit dem Gedenken der Kriegsopfer das Gedenken an die KZ-Opfer fest verbunden war, was zu einer besonderen Sensibilität führt, so daß persönliche Befindlichkeiten der Redner hier nichts zu suchen hatten. Hätte man die Feier verändern wollen, hätte man auch bedenken müssen, wie man der Opfer des KZ gerecht geworden wäre. Während meiner gesamten Amtszeit bis 1976 blieb also die Gestaltung des Volkstrauertages in dieser Form bestehen. Wie es danach gehandhabt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.
Zum Schluss möchte ich noch auf die Besuche ehemaliger Häftlinge, also von Überlebenden des KZ Engerhafe, eingehen. Zu meiner Verwunderung kamen immer wieder ehemalige Häftlinge nach Engerhafe, angemeldet wie unangemeldet. Meist waren es Franzosen oder Polen, die von Dolmetschern begleitet wurden.
Ich führte sie zum Friedhof, um ihnen den Platz zu zeigen, wo die Opfer des KZ ruhen. Es wurde nicht viel gesprochen, die innere Bewegung und Betroffenheit war groß. Die Besucher wollten auch den Platz sehen, wo das Lager gestanden hatte, fanden sich aber in der veränderten Topographie nicht mehr zurecht. Einige gaben an, sie hätten nicht bemerkt, daß sich das Lager in der Nähe einer Kirche befunden habe. Gläubige Katholiken aus Polen waren dankbar, wenn ich ihnen auch die Kirche öffnete und zeigte. Mir ist in Erinnerung geblieben, wie sie an den Stufen des Altarraums niederknieten und lange im stillen Gebet verharrten. Anschließend überreichten sie mir eine Vase, die für Blumen auf dem Altar bestimmt sein sollte. Diese Vase wurde im Gemeindehaus aufbewahrt. Ob es sie heute noch gibt, weiß ich nicht.
Leider blieb es nur bei diesen kurzlebigen Kontakten während dieser Besuche. Die Sprachbarrieren verhinderten bleibende Verbindungen. Außerdem war meine dienstliche Belastung durch die fortwährenden Vakanzvertretungen so groß, dass mir für diese Aufgaben der Kontaktpflege nicht genügend Zeit blieb.
Ich begrüße es sehr, dass sich heute ein Verein um das Gedenken an das KZ Engerhafe kümmert.
Christian Meyer, 2013