Wenn die Einwohner von Engerhafe über ihre Erlebnisse während der Kriegszeit sprachen, dann überwiegend zu Hause, in der Familie, gegenüber der Pflegerin oder mit dem Pastor. Die Altenpflegerin Renate Janssen hat einige Zeitzeugenberichte zwischen 2009 und 2012 zusammengetragen:
N.N. erzählte mir von ihren Erlebnissen als Kind.
Sie war mit einer Freundin und Äpfeln in der Tasche von Oldeborg nach Engerhafe gefahren. Dort jonglierten sie mit den Äpfeln und –schwupp, flog einer über den Zaun zu den Häftlingen. Sie berichtet auch von dem Vater einer Nachbarin: Er brachte mit einer Schubkarre bestellte Kartoffeln ins Lager. (2009)
Am Nachmittag war ich bei N.N. Er wohnt jetzt in Engerhafe. Er musste mit dem Arbeitsdienst auch Panzergräben bei Carolinensiel ausheben. Aus dieser Zeit kennt er auch meinen Vater. Er ist einmal ausnahmsweise mit dem Güterzug im Versorgungswagen nach Aurich gefahren. Er sah in den Waggons mit Tüchern abgedeckte Menschen. Darauf wurde er angefaucht. „Was guckst du so, da liegen Rüben.“
Er erinnert sich auch an die mit Knüppel geschlagenen Menschen. Er meint, die Bewacher wären auch Gefangene, nur mit grüner Armbinde. Wenn einer seinen Schuh verlor, durfte er ihn nicht aufheben, sondern musste weitergehen.
Seine Frau, wuchs neben dem Lager auf. Sie möchte nichts mehr darüber hören. Es war so schrecklich. „Hört auf“, sagt sie, „ich kann dann heute Nacht nicht schlafen.“ Sie fuhr mit ihren Schwestern und Freundinnen morgens mit dem Zug nach Aurich, 7 Uhr morgens. Die Gefangenen liefen auch gerade los. „Wir konnten nicht vorbei, mussten ja da durch. Waren ja schon spät dran. Ein Nachbar, der beim Volksturm war, half manchmal.“
Sie erinnert sich auch an das Lager. Noch aus der Zeit der englischen Besatzung. Dort fanden für die Kinder z.B. BDM-Veranstaltungen statt. Sie malt mir mit dem Finger auf der Tischplatte das Lager auf. Ich frage sie, ob das ehemalige Feuerwehrhaus ein Gebäude des Lagers war. Das glaubt sie nicht. Diese Wellblechhütte steht jetzt in Oldeborg. Ich hatte gehört, dass dies die Aufschrift: “Vorsicht Seuchengefahr, Betreten verboten“ trug. Ob sich Latrinen außerhalb des Lagers befanden, weiß sie nicht. Die Frauen der Aufseher übernachteten bei Besuchen im Hause ihrer Eltern. (15.4.2010)
Heute Morgen habe ich N.N. nach seinen Erinnerungen an die KZ-Häftlinge von Engerhafe befragt. Er erinnert sich, dass er als 14-jähriger in Georgsheil den Trupp der Gefangenen traf. Sie hakten einander unter. Wurden von ihren Bewachern mit Knüppeln geschlagen. Die noch konnten, stützten die, die keine Kraft mehr hatten. Manche stürzten. Es wurde gerufen: „Da ist schon wieder einer eingeknickt.“
Dort wo sich jetzt die Besamungsstation befindet, standen offene Güterwagen. Darauf lag ein Toter. Dieses wurde nicht gerne gesehen und musste schnell geregelt werden. Polizist Hoppe kümmerte sich. (15.4.2010)
Zeitzeuge N.N., geb.1931. Ich zeige ihm eine Zeichnung vom KZ-Lager. Er erinnert sich an die vier Wachtürme und an das bewaffnete Wachpersonal oben darauf. Ein Elektrozaun war ringsherum angebracht. Wenn der Draht berührt wurde, heulte der Alarm los. Seine Eltern hatten ihn gewarnt: „Geh da nicht hin, die schießen euch ab“.
Über die Gefangenen sagte er: „Die armen Menschen mussten zu Fuß nach Georgsheil, dann in Güterzügen nach Aurich. Auf deren Rückweg beobachtete er, wie erschöpfte Gefangene von ihren gleichfalls erschöpften Kameraden, auf Karren transportiert wurden. Die Wachleute zogen sie an den Armen herunter. Sie jammerten. Es wurde nicht viel darüber geredet. Alle hatten Angst.
N.N. besuchte erst die alte Schule an der Kirche in Engerhafe. Später ging es in Reih und Glied, Hand in Hand, zur neuen Schule am Achterumsweg. Aufgebracht erinnert er sich an den Lehrer: „Aufstehen, Hinsetzen“, hieß es. Der war sehr streng. Ein Nazi.
Am Nachmittag ging es in „Klumpschuhen“* zu Fuß von Engerhafe nach Oldeborg zu Übungen des Jungvolkes bei der Schule. Dort wurde auf dem Weg zwischen Kalkwarfs und Schule marschiert. Die Jungschargruppe trainierte. Ihr Führer war aus Engerhafe. Dessen Frau trainierte die Mädchen. „Ich ging zu den Braunhemden“, sagte er. Auch er bekam ein solches Hemd. Im Bund waren Löcher, dort konnte man seine Hosenträger hindurch stecken. Der Lederbesatz auf den Klumpen musste gut geputzt sein. Das machte seine Mutter mit Speck und wenn vorrätig mit Seife. In den Klassenzimmern sitzend wurde gesungen. (16.03.2010)
Zuerst erzählt N.N. von einem Polen, der als Gefangener auf einem Hof in Burhafe-Abelitz arbeitete. Es hieß „Der Pole will sich nicht waschen.“ Daraufhin wurde er entkleidet und geschrubbt. Dieser Mann kam auch ins Lager nach Engerhafe. Er war 1944, 9 Jahre alt und erinnert sich an den Tag, als die Gefangenen in Georgsheil ankamen. Die Türen der Waggons wurden geöffnet und Brote hineingeworfen. Die Männer hätten gerufen („as Deeren bölkt“, sagt er.). Später mussten alle antreten. Eine lange Schlange, fast 500 Männer, entlang der Straße. Damals hatte Georgsheil zwei Bahnhöfe und drei Gleise. Es gab keine Absperrungen wie heute. Auch die Bundesstraße war nur 6 m breit und bestand aus runden Basaltsteinen, sogenannten „Kattkoppen“. „Hurtig, hurtig gab es das Kommando zum Abmarsch nach Engerhafe. Er hört noch heute das Klappern der Holzschuhe. Wohin die Männer gingen, wusste er damals nicht. Engerhafe war für ihn weit entfernt.
Jeden Morgen und Abend gab es dies Prozedere. Dabei wurde nach und nach die Schlange kürzer, da viele verstarben. Einmal stand ein mit Rüben beladener Waggon dort. Die Gefangenen nahmen sich welche davon und wurden mit Schlägen durch Gewehrkolben bestraft.
Austreten durften die Gefangenen auch nicht. Sie verrichteten ihre Notdurft im Laufen. Auf dem Weg zur Schule wurde N.N. von Pferdewagen, die dort hindurch fuhren, bespritzt. „in der Schule stank man dann“ sagte er. Anfangs durften die Gefangenen sich noch hinter Hecken hocken. Später wurde das verboten, weil dort Früchte der Anwohner lagerten. Die toten Gefangenen wurden von ihren Kameraden zum Lager geschleppt. Das sah eine Anwohnerin und bot ihre Schubkarre an. Anfangs gab es auch eine Karre der Bahn. (06.07.2010)
Nach dem Krieg wurden dann das Wachpersonal und auch Polizist Hoppe im Lager eingesperrt, erzählte mir heute N.N. Nach seiner Freilassung bot Herr Hoppe dann in seiner Georgsheiler Nachbarschaft Hilfe beim Entleeren der Klärgruben an. Das könnte er jetzt gut, hätte er in der Gefangenschaft gelernt. Er weiß auch noch genau den Verlauf des Panzergrabens bei Aurich, z.B. im Eikebusch. (21.09.2010)
Heute erzählte mir eine Frau aus Neu-Wiegbolsbur: „Ich war Milchkontrolleurin und musste mit dem Rad nach Bedekaspeler Marsch zu einem Bauern Ich kam durch Georgsheil, immer sehr früh morgens. Ich weiß, was 2000 Menschen sind. Da standen sie. Die hatten Hunger. „Bedrövt weer dat. Wo kunn dat blood sowiet kaamen“.
Wir hatten Jungmädchengruppen, und Treffen, Veranstaltungen, wir hatten sehr viel Spaß, ja, es hat Spaß gemacht. Wussten wir denn wohin das führt? Furchtbar. All die jungen Männer sind im Feld geblieben. (20.09.2010)
N.N. erzählte mir bei einem Telefonat, dass sich nach Lagerauflösung die umliegenden Bewohner Möbel, Holz und sonstiges Material holten. Auch ihre Familie hatte etwas aus dieser Zeit in Besitz. Ihre Tochter hat eine Arbeit über das KZ geschrieben. Dabei fanden sie heraus, dass eine Wellblechhalle in Oldeborg zum Lager gehörte und die Aufschrift: “Vorsicht Seuchengefahr – Betreten verboten“ trug. Diese Halle wurde von der Feuerwehr als Garage genutzt. (2010)
Heute erzählte mir N.N. aus Emden: Oktober 1944 wurde die Emder Bevölkerung evakuiert. Er und seine Eltern fanden Unterkunft in Norden, nahe bei den Zwillingsmühlen. Eines Tages hatte er Gelegenheit, ihr Sofa mit einem Traktor (Holzgasantrieb) zu transportieren. Er nahm auf dem Sofa des Anhängers Platz. Der Fahrer hatte auch noch Holz und Brot geladen. Die Fahrt ging zunächst bis Marienhafe. Dort hatte der Fahrer im dortigen Flüchtlingslager eine Freundin. Übernachten musste er unter einer Plane. Am nächsten Tag ging es zurück nach Engerhafe. Er bekam die Anweisung, unter der Plane zu bleiben und sich nicht zu rühren. Die Fahrt ging ins KZ-Gelände. Dort luden die Gefangenen das Brot ab. Er konnte es nicht lassen und schaute durch die Plane und sah, wie die Gefangenen die Reste von Mehl und Krümel vom Anhänger in den Mund stopften. (17.01.2011)
„Ich wurde fünf Jahre nach Kriegsende geboren. Aber in den 50er-Jahren habe ich indirekt noch zweimal, bzw. auf zweifache Weise Kontakt mit dem längst verschwundenen Konzentrationslager gehabt:
1. Damals, bin ich zur Grundschule am Achterumsweg gegangen. Meine Mitschüler und ich tranken auf dem Hin- oder Rückweg nach oder von der Schule häufig und ganz selbstverständlich aus einem Wasserhahn am Dodentwenter (das Wasser muss aus einem Tiefbrunnen gestammt haben) ein paar Schluck Wasser. Ich glaube, ich könnte heute noch in etwa den Standort des Wasserhahns bestimmen. Natürlich wussten wir nicht, welche Bewandtnis es mit dem freistehenden Wasserhahn hatte. Erst viel später erfuhr ich und las es auch in entsprechenden Berichten, dass jener Wasserhahn die einzige Wasserversorgungseinrichtung für das ehemalige Konzentrationslager hinter der Pastorei gewesen war.
2. Um 1960 wurde ich Zeuge, wohl wieder auf dem Weg zur Schule oder von der Schule nach Hause, wie etwa 20 Meter(?) nördlich des Ihnenschen Hofes gebaggert wurde. Ich sah dabei, wie eine große Anzahl Schusswaffen, die ziemlich verrostet waren, ans Tageslicht kamen. Ich weiß nicht, ob mir schon damals bewusst war, dass es sich um Waffen (Sturmgewehre, Karabiner?) aus dem ehemaligen KZ gehandelt haben muss. Auf alle Fälle fanden meine Mitschüler und ich, alle höchstens 10 oder 11 Jahre alt, das Gesehene sehr aufregend und spannend. Und so habe ich jenes Ereignis bis heute nicht vergessen. (27.10.2011)
Auf dem Flohmarkt erzählt mir N.N., ihre Oma hätte einen flüchtenden Häftling versteckt, und bekam dadurch Schwierigkeiten. Ich fragte bei ihrer Tante nach, und die kannte die Geschichte etwas anders. Ihre Mutter war auf dem Friedhof gewesen und traf die nach dem geflüchteten Jungen suchenden Wachmänner. „Lass den Jungen doch laufen, der Krieg ist doch sowieso bald aus“, soll sie gesagt haben. Sie bekam große Schwierigkeiten. (2011)
Ein Bekannter, damals Schulkind in Engerhafe, meint sich an eine Exhumierung zu erinnern. Will mir die Stelle noch zeigen. Er erinnert sich daran, dass auf dem Schulhof mit Plastik und Tüchern abgedeckte Tote lagen und ein furchtbarer Geruch da war. Das kann die Zwischenlagerung der Toten bei der Umbettung durch die Franzosen 1952 gewesen sein. (2012)