Werke der Barmherzigkeit aus Engerhafe
Der spätere Regierungspräsident von Ostfriesland Jann Berghaus war von 1893 bis 1903 Schullehrer in Oldeborg. Seine in Oldeborg geborene Tochter Siever Johanna Meyer-Abbich hat später die Lebenserinnerungen ihres Vaters unter dem Titel: „Jann Berghaus erzählt“ herausgegeben. Sie war auch die Verfasserin der historischen Romane „Foelke Kampana“ und „Forsetesland“.
In diesen Lebenserinnerungen erzählt Jann Berghaus auch eine Begebenheit, die sich zu Anfang seiner Lehrertätigkeit in Oldeborg ereignete. Der damals noch unverheiratete Berghaus hatte zur Reinigung seiner Lehrerwohnung diejenige Frau aus dem Dorf angestellt, die auch die Schule sauber machte. Er nennt ihren Namen nicht aber wir wissen, dass es sich um Siebentje Engelbarts Janssen, geb. Heeren, am 10. Februar 1842 in Upende geboren, handelt. Sie ist die Ehefrau von Luitjen Janssen der am 17. Januar 1851 in Moorhusen geboren ist. Jann Berghaus schreibt, dass diese Frau am Anfang ihm gegenüber unfreundlich und abweisend gewesen sei. Bei einer Unterredung mit ihr erfuhr er den Grund dafür: Einer ihrer Söhne war „zurückgeblieben“ und so deutet es Jann Berghaus an, von seinem Vorgänger, der wahrscheinlich äußere Ähnlichkeit mit ihm hatte, geschlagen worden. Dieses negative Erlebnis mit seinem Vorgänger hat die Voreingenommenheit von Siebentje Janssen bewirkt. Die Eltern hatten daraufhin ihr Kind aus der Schule genommen. Jann Berghaus bot an, dass sie das Kind wieder zur Schule schicken sollten und er es unterrichten wolle.
In der Folgezeit beobachtet Jann Berghaus, dass die Geschwister und die Nachbarkinder des „unglücklichen Jungen“ ihn dabei behilflich waren, seine Schulaufgaben zu erledigen. Auch von den übrigen Schulkindern hatte er keine Repressionen zu erleiden. Jann Berghaus schreibt: „So ist von diesem Kind ein Strom des Segens ausgegangen, und sollte nicht sein Bild mitgewirkt haben, dass fünf Geschwister ihr Leben den Werken der Barmherzigkeit weihten?“
Was waren das jetzt für „Werke der Barmherzigkeit“ die Jann Berghaus hier anführte?
Wir wollen sie anhand der Kinder von Luitjen und Siebentje Janssen erfahren.
Das erste Kind der Familie Janssen, Enntje Siebens Janssen, hat Jann Berghaus nicht kennengelernt, es ist am 15. November 1869 geboren und stirbt am 10. Februar 1877 im Alter von sieben Jahren.
Die zweite Tochter ist Antje Mimkes Janssen, sie ist am 3. März 1872 geboren und trat am 17. Mai 1894 als Probeschwester in das Mutterhaus des Henriettenstifts in Hannover ein und wurde 1900 zur Diakonisse eingesegnet. Nach ihrer Ausbildung arbeitete sie im Krankenhaus Bethanien in Hannover. Im Januar 1898 wurde sie nach Hildesheim versetzt. Dreißig Jahre arbeitete sie dort bis dieses Krankenhaus geschlossen wurde. Sie kehrte dann ins Mutterhaus zurück.
Abbildung: Grabstein von Antje und Engel Janssen und ihrer Nichte Annemarie.
Die letzten beiden Jahre ihres Arbeitsleben war sie im Krankenhaus Alt-Bethesda beschäftigt. Ihren Altersruhesitz hatte sie in ihrem Elternhaus in Upende, Oldeborger Straße 46. Antje Janssen starb am 18. Juni 1948 und wurde auf dem Friedhof Engerhafe begraben. Im Nachruf der Henriettenstiftung heißt es unter anderem: „Tief im Glauben an Gott den Vater und ihren Heiland Jesus Christus gegründet, hat sie still und in aller Bescheidenheit gewirkt und vielen ein Zeugnis dessen, was ihren Glaubens Kraft war, geben können.“
Das dritte Kind ist Luitjen Janssen, am 8. November 1874 geboren. Er wird Missionar der Hermannsburger Mission. Pastor Hermann Aden schreibt in seiner Aufstellung aller Ostfriesen, die im Missionsdienst waren, folgendes: Luitjen Janssen, geb. am 8. November 1874 in Upende, besuchte das Missionsseminar von 1896-1902. 1903 reiste er nach Südafrika und war für die Betschuanen-Mission bestimmt. Sein erster Einsatz war Limao (Bechuanaland), dann folgte 1912 Berseba (Seminardienst) und seit 1918 die Missionsstation Polfontein, wo er zu seinem 50. Amtsjubiläum in den Ruhestand trat. Er starb am 2. September 1960 und wurde, wie seine Frau zwei Jahre später, in Kroondal beerdigt.
Das vierte Kind heißt wie ihre mittlerweile verstorbene Schwester, Enntje Siemens Janssen, sie ist am 04. Dezember 1877 geboren und heiratet am 01. Juni 1903 Reinhard Janssen. Eines ihrer Söhne, Lütjen Engelberth Johann Janssen, geboren am 21. August 1912 in Upende, hat sich ebenfalls bei der Hermannsburger Mission auf seinen Missionsdienst in Südafrika vorbereitet.
Abbildung: Luitjen Janssen, 1950 Pastor in Weene.
Am 30. Juli 1939 wurde die Einsegnungsfeier unter grosser Beteiligung der Bevölkerung in Engerhafe abgehalten. Die Kisten und Koffer standen schon versandbereit im Hamburger Hafen, als der Beginn des zweiten Weltkriegs am 01. September 1939 die Entsendung in den Missionsdienst stoppte. Luitjen Janssen wurde, wie auch die beiden anderen Ostfriesen, die sich mit ihm auf die Mission vorbereiteten und in Engerhafe eingesegnet wurden, in die Wehrmacht eingezogen. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs war Luitjen Janssen bis 1954 Volksmissionar in Strackholt und anschließend von 1955 bis 1977 Pastor in der Gemeinde Weene, er starb am 02. Januar 1990 in Detmold.
Ein anderes Kind von Reinhard und Enntje Janssen, war von 1970 bis 1994 Mitglied des Kirchenvorstand der Kirchengemeinde Engerhafe.
Das fünfte Kind, Engel Heeren Janssen geboren am 30. September 1880, war ebenfalls Diakonisse des Henrietten Stift in Hannover. Im Alter von 23 Jahren trat sie als Probeschwester in das Diakonissen-Mutterhaus ein. Am 27. Juni 1909 erfolgte ihre Einsegnung zur Diakonisse. Nach einem Probeschwesterjahr arbeitete sie fast zehn Jahre im Krankenhaus Nordstadt in Hannover.
Abbildung Engel Janssen im Lazarett in Frankreich 1914-1918.
Engel Janssen nahm als Krankenschwester vom 2. Oktober 1914 bis zum November 1918 in verschiedenen Etappenlazaretten am Ersten Weltkrieg teil. Mehr als zwei Jahre dieser Zeit arbeitete sie in einem Lazarett der französischen Stadt Nesle (Département Somme). Während des Krieges schrieb sie oft Feldpostkarten an ihre Eltern in Upende.
Nach dem Krieg übernahm sie ab Oktober 1919 die Arbeit als Gemeindeschwester in der Kirchengemeinde Engerhafe. Hier arbeitete sie über 30 Jahre lang bis 1950 und wohnte in ihrem Elternhaus Oldeborger Straße 46. Engel Janssen starb am 5. Februar 1955 in Upende. Vier Tage später wurde sie dort auf dem Gemeindefriedhof beigesetzt.
In einem Nachruf der Henriettenstiftung Hannover heißt es: „Unsere liebe Schwester Engel war eine von den Stillen im Lande und aufs engste mit ihrer ostfriesischen Heimat verwachsen. Sie hat schlicht und in Einfalt als rechte Diakonisse ihres Herrn Jesus Christus gedient und als solche auch vielen zum Segen sein dürfen. Ihr Heimgehen war ein stilles Verlöschen der Lebenskraft. Wir dürfen hoffen, dass sie nun schauen darf, was sie hier auf Erden geglaubt hat.“
Das sechste Kind, Engelbart Heeren Janssen, geboren am 11. März 1883, wurde wie sein Bruder Missionar der Hermannsburger Mission. Hermann Aden schreibt: […], wurde von 1904-1910 im Missionsseminar ausgebildet und anschließend in die Betschuanen-Mission nach Transvaal, Südafrika, ausgesandt. Seine erste Station war Melrane, dann arbeitete er seit 1920 35 Jahre lang bis zu seiner Pensionierung auf der Station Emmaus. Nach einem Schlaganfall starb Engelbart Janssen am 30. Januar 1962. Er lebte mit seiner Frau bei einer Tochter in Gerdau.
Das sechste Kind ist schließlich der „unglückliche Junge“ Jan Luitjen Janssen, geboren am 28. September 1885. Er wurde, so schreibt Jann Berghaus, von seiner Schwester Enntje aufgenommen. Jan starb am 24. Mai 1921 im Alter von 35 Jahren noch vor seine Eltern.
Das jüngste Kind, Hermann Luitjens Janssen, wurde am 12. April 1887 geboren. Er war ebenfalls Missionar der Hermannsburger Mission. Hermann Aden schreibt: […].Nach dem Gymnasium ın Norden und eine Krankenpflege-Ausbildung 1906 Eintritt ıns Missionsseminar. Er war für die neu geplante Conde-Mission in Deutsch-Ostafrika vorgesehen. Von Kapstadt über Transvaal, wo er seine Brüder besuchte, reiste er nach Ostafrika; dort Einführung in die Arbeit auf der Missionsstation Tanga der Bethel-Mission. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges Eintritt in die Schutztruppe als Unteroffizier, später als Sanitäter. Verwundung, Erkrankung an Typhus, 1917 englische Gefangenschaft, Kriegsgefangenenlager Tura in Ägypten, dann Catterick in England, wo er am 29. November 1918 an Grippe und Fieber erkrankt starb. Der BetheI-Missionar Röseler beerdigte ihn.
Abbildung: Todesanzeige von Hermann Janssen
Die Eltern sind noch gemeinsam alt geworden. Jann Berghaus schreibt: „Etwa drei Jahrzehnte nach meinem Fortgang aus Oldeborg (Jann Berghaus war zu dem Zeitpunkt Regierungspräsident) erhielt ich ein Schreiben von dem Geistlichen in Engerhafe (Pastor Johann Remmers) des Inhalts, in Upende würde eine Diamantene Hochzeit gefeiert. Er habe das alte Ehepaar um seine Wünsche befragt, und die Alten hätten gebeten, der Herr Pastor möge meine Frau und mich zu dieser Feier einladen. Es handelte sich um meine frühere Schulwärterin! Wir reisten natürlich hin und mussten rechts und links von den alten Leuten sitzen; ein großer Teil der Gemeinde war versammelt. Meine Frau hatte für die Jubilarin eine Lutherpostille mitgebracht, und ich schenkte dem Alten einen derben Handstock.
Der unglückliche Junge war nicht dabei. Gott hatte ihn zu sich genommen. Die Eltern haben wohl keinen größeren Herzenswunsch gehabt als den, dass sie dieses Kind überleben möchten, damit sie nicht noch im Sterben um dessen Zukunft in Sorge zu sein brauchten. Diese Sorge habe ich bei Eltern unglücklicher Kinder immer wieder gefunden.
Im Laufe der Feier stieß mich der Alte an und sagte leise: „Se will gern hebben, dat Se noch ’n Woort seggen.“ Ich tat das, anschließend an Psalm- und Kirchenliederworte: „Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet, der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet. In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet. Lobe den Herren, der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet …“. Es war eine erhebende Feier. Wir sahen die Alten nicht wieder; sie sind bald im Frieden heimgegangen.“
Werke der Barmherzigkeit haben, so Jann Berghaus, ihren Ursprung in der Krankheit dieses „unglücklichen“ Jungen gehabt. Hat er dabei an die Geschichte aus dem Johannesevangelium gedacht, die von der Heilung eines Blindgeborenen handelt?
Im Evangelium des Johannes im 9. Kapitel steht: Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.
Jesus hat den Blindgeborenen daraufhin geheilt. Jan Luitjen Janssen hat keinen gehabt der ihn heilen konnte. Aber seine Geschwister haben ihn gefördert und gepflegt. Und nicht nur ihn, sondern darüber hinaus haben die beiden Diakonissen vielen Kranken geholfen und die drei Missionare haben in Afrika sicher ebenso, vielen Menschen von der befreienden Macht Jesu Christi erzählt. Für uns ist es schwer nachzuvollziehen, dass auch in der Behinderung eines Menschen noch Segen liegt. Wenn wir es erkennen können, dann nur im Nachgang, wenn die Zusammenhänge offenbar werden und wir es genauso wie Jann Berghaus akzeptieren, dass auch Behinderung und Krankheit ihren Ursprung in Gott hat.
Gerd Lücken