1966 Erinnerungen von P. Hajo Müller

Als ich zum 1. Nov. 1966 die Pfarrstelle in Engerhafe antrat und mit meiner Frau zu diesem Zeitpunkt das alte Pfarrhaus bezog, hatte ich noch nichts von einem KZ-Außenlager in Engerhafe (errichtet im letzten Kriegsjahr 1944/45) gehört. Auch die damaligen Mitglieder des Kirchenvorstands, die mir die Gemeinde durch mündliche Berichte und eine Rundfahrt vorstellten, haben mich zunächst nicht darüber informiert. Offenbar war das damals kein Thema in der Kirchengemeinde. Höchste Priorität hatte in dieser Zeit die damals anstehende große Renovierung der über 700 Jahre alten Kirche.

Immerhin erfuhr ich dann nach und nach von dem „dunklen Kapitel“ in unmittelbarer Nähe von Kirche und Pfarrhaus. Sichtbare Spuren oder Überreste von Baracken waren nicht mehr vorhanden; lediglich ein verunkrautetes tiefer als das Pfarrhaus gelegene kleines Geländeteil mit Bäumen bestanden – nordöstlich von diesem, ließen ahnen, dass dieses „Stück Land“ von den Bewohnern Engerhafes als „wertlos“, wenn nicht „unheimlich“ angesehen wurde. Es kam mir vor wie ein Reststück „Unland“ aus vergangenen Jahrhunderten. – Lässt vielleicht die damalige Missachtung dieses Geländes durch die Dorfbevölkerung tiefere Schlüsse zu?

Ist diese evtl. ein Hinweis auf eine Art psychischer Verdrängung bei den Bürgern der Gemeinde? Die einzige Erinnerung an das KZ-Lager war damals die kleine Friedhofsabteilung hinter, bzw. unter dem Glockenturm, auf der etliche KZ-Opfer beigesetzt sind. Diese waren – wie spätere Recherchen ergeben haben – überwiegend an Hunger und daraus resultierenden Erkrankungen zugrunde gegangen. Da es sich bei den KZ – Insassen vor allem um Niederländer und Belgier sowie wenige Polen und Russen handelte, sind etliche der Umgekommenen und hier Bestatteten in der Nachkriegszeit auf Friedhöfe in ihren Heimländern umgebettet worden. Deshalb sollte man auch nicht von der relativ kleinen Zahl der auf dem Engerhafer Friedhof Bestatteten auf eine geringe Zahl von Opfern in Engerhafe schließen.

Im Herbst (Nov.?) eines jeden Jahres fand am Nachmittag eines Sonntags auf dem KZ-Friedhof eine kleine Gedenkfeier statt, an der vor allem Angehörige der Umgekommenen aus den Niederlanden, sowie einige Deutsche aus Städten wie Aurich, Emden und Norden teilnahmen. Ich kann mich nicht erinnern, dass dazu in der Engerhafer Kirche – in den Abkündigungen der Gottesdienste – offiziell eingeladen wurde; im Gegenteil: Mir wurde durch ein Gemeindeglied von einer Teilnahme abgeraten, da die Veranstaltung „kommunistisch unterwandert“ sei. Veranstalter sei in erster Linie in „antifaschistischer Bund ehemaliger Naziopfer in Europa“ (oder so ähnlich). Damit wolle man nichts zu tun haben. Infolge dieser allgemein verbreiteten Einstellung war so gut wie niemand aus dem Dorf jemals an der Feier beteiligt.

Was habe ich damals aus der Zeit der Existenz des KZ-Lagers erfahren können?
Ein Gemeindeglied erzählte mir, was mit den KZ – Insassen geschah: Früh morgens marschierten die Arbeitsfähigen von ihnen in Reih und Glied – begleitet von bewaffnetem Wachpersonal (SS?) nach Georgsheil, wo man einen Zug bestieg (ob Personen- oder Viehwagen entzieht sich meiner Kenntnis), der die KZ-ler nach Tannenhausen bei Aurich in die dortige Munitionsfabrik (in einem schützenden Wald gelegen) transportierte. Abends wurden diese Menschen dann nach Georgsheil zurückgebracht, von wo es im Fußmarsch zum Lager in Engerhafe zurückging. Sie hätten auf ihn, der oftmals Zeuge dieser Märsche war, wie „Elendsgestalten“ gewirkt: Ausgehungert, ausgemergelt, Mitleid erregend. Ein paar Mal habe er dem einen oder anderen der nach Georgsheil Marschierenden heimlich ein Stück Brot zustecken können.

Im Jahre 1969 endete meine Zeit als vakanzvertretender Pastor in Engerhafe. Mein Nachfolger wurde Pastor Christian Meyer (heute Pastor im Ruhestand in Wittmund), während ich die Pfarrstelle in Münkeboe-Moorhusen innehatte und dort auch mit meiner Familie im Februar 1968 hinzog. Von da an ist bei mir das Kapitel „K.Z. Engerhafe“ mehr oder weniger aus den Augen und dem Sinn geraten. Erst in späteren Jahren (ab 1.7.1973 hatte ich eine Pfarrstelle in Leer übernommen) wurde bei mir wieder das Interesse an diesem traurigen Kapitel Engerhafer Dorf- und Kirchengeschichte geweckt.

Heute tut es mir leid, dass ich mich in den knapp drei Jahren meiner pfarramtlichen Tätigkeit in Engerhafe nicht eingehender und tiefer mit ihr beschäftigt habe und auch in meinen Predigten und Ansprachen – nach meiner Erinnerung – auf die von den Engerhafer Gemeindegliedern hautnah miterlebten Naziverbrechen nicht näher eingegangen bin.

Um so mehr gibt es mir eine gewisse Befriedigung, dass das verbrecherische Geschehen rund um die Engerhafer Kirche während der letzten Kriegsmonate mehr und mehr der Vergessenheit entrissen werden konnte und nunmehr mit einer geplanten Dauerausstellung (Dokumentation) im alten Pfarrhaus wieder präsent gemacht werden soll.

Die Verwirklichung dieses Vorhabens könnte zukünftig in Engerhafe dazu dienen, die unaufgebbare Mahnung zu bewahren: Niemals darf sich bei uns derartige Unmenschlichkeit wiederholen und „wehret den Anfängen eines ähnlichen Ungeistes“.

Hajo Müller, 2013