Patengedächtnisglocke

Bei den Vorbereitungen zur diesjährigen Gedenkfeier an die Opfer des KZ-Außenlager Engerhafe, die in diesem Jahr nur sehr eingeschränkt erfolgen kann, kam die Frage auf, welche Glocke zum Abschluss geläutet werden soll. Gerd Lücken sagte daraufhin: „Das kann nur die kleine Glocke sein, denn diese wird 1954 als Patengedächtnisglocke bezeichnet, die am Schluss der damaligen Gedenkfeiern geläutet wurde.“
Den Hintergrund erfahren wir aus einem Briefwechsel. Am 16.2.1954 schreibt der Vorsitzende vom Kirchenvorstand und Inhaber des Pfarramts Pastor Kuhnert dem Landeskirchenamt: „Alljährlich werden vom Bezirksrat politischer Häftlinge und Verfolgter im Regierungsbezirk Aurich e.V. Feiern veranstaltet, an denen die Beteiligung des Ortspastoren und der Kirchengemeinde erfolgte. Der Verlauf einer solchen Feier war etwa der: 10 Uhr Gottesdienst der Kirchengemeinde, an dem sich auch die ehemaligen Verfolgten und politischen Häftlinge beteiligten. Anschließend Ansprachen der Vorsitzenden jenes Verbandes und des Pastoren. Eingerahmt wurde diese Feier von Gemeindegesang aus dem Liedgut der Kirche. Zum Schluss ertönte die Patengedächtnisglocke.“
Wie kam es jetzt zu dieser Bezeichnung als Patengedächtnisglocke? Was verbirgt sich dahinter?
Die Kirchengemeinde musste, wie alle anderen auch, in den beiden Weltkriegen ihre größte Glocke abgeben. Sie wurden eingeschmolzen und für den Bau von Kriegswaffen verwendet. Im 1. Weltkrieg war es eine im Jahr 1882 von der Fa. Bartels in Hildesheim hergestellte Glocke die 5.000 Pfund gewogen hat und die größte im Landkreis Aurich gewesen sein soll. Sie wurde ausgebaut und verließ am 31.07.1917 Engerhafe. Die Kirchengemeinde beschloss 1932 die Anschaffung einer ähnlich großen Glocke. Diese Glocke musste wiederum im Januar 1942 abgeliefert werden und wurde im Februar 1945 eingeschmolzen.
Nach dem 2. Weltkrieg teilte der Ausschuss für die Rückführung der Glocken, der Kirchengemeinde Engerhafe eine Glocke aus dem Glocken-Sammellager Hamburg-Billwerder, im Gewicht von 880 kg Gewicht zu. Sie hat nur ein Drittel des Gewichts der abgegebenen Glocke und ist somit noch kleiner als die der Kirchengemeinde verbliebene kleine Glocke.
Diese Glocke aus Kreuzberg hatte eine Vorgängerin die bei einem Brand der Kirche am 6.09.1795 zerstört wurde. Die neue Glocke wurde im Jahre 1796 von einem Breslauer Meister gegossen und läutete bis 1944 für die Kirche zu Kreuzberg in Schlesien. Sie musste 1944 dann für Kriegszwecke abgeliefert werden. Sie „überlebte“ in Hamburg den 2. Weltkrieg. Am 17. Februar 1952 wurde sie mit einem feierlichen Gottesdienst in Engerhafe in Benutzung genommen.
Pastor Kuhnert schreibt dazu:
„Und die Glocken fehlten, die nahm uns der Krieg. Die Klöppelanlage der einen uns noch verbliebenen Glocke wurde neu überholt und es war für die Kirchengemeinde eine Riesenfreude, als sie erfuhr, das ihr eine Patenglocke aus Schlesien zur Verfügung gestellt wurde, die dem Andenken der Kriegsopfer und KZ-Insassen gewidmet wurde. 1952 wurde diese Glocke feierlich eingeholt und in Betrieb genommen. Sie klingt mit der alten in einer schönen Harmonie. Gott gebe es, dass sie mit den Ostflüchtlingen einmal in ihre Heimat zurückkehren kann, nachdem sie hier ihren löblichen Dienst getan hat.“
Es gibt einige Inschriften auf der Glocke.

Ganz oben: JOHANN GEORGE KRIEGER GOSS MICH IN BRESLAU IM JAR 1796
Darunter: ZERSCHMOLZEN IM BRANDE DEN 6 TEN SEPTEMBER 1795
Darunter auf der Südseite:
GEORGE SAMUEL GUERNTH.
PASTOR UND SENIOR.
ERNST GOTTLIEB NEUGEBAUER.
DIACONUS.
JOHANN MARTIN ROEMKE.
I STER VORST: UND RENDANT.
CHRISTIAN THOMAS WIECZORECK.
II TER VORST:

auf der Nordseite:
MAGISTRAT.
C:S: BERNHARDT. DIRECTOR.
S:G: BOBER. SYNDICUS.
I:S: JANUSCH. SENAT: & OEK:
I:G: KUNISCH. SENAT: & KÆM:
I:G: BUETTNER. SENAT: & POL: I:
C:S: RODEWALD. SENAT: SUP: I.
C:G: STIER. SENAT: SUP: II.

In einer umlaufenden Schrift stehen ganz oben die Daten des Glockengießers, der Ort des Glockenguss und das Jahr. Darunter wird der Brand der Kirche am 6.09.1795, mit der Zerstörung der Vorgängerglocke erwähnt.
Auf einer Seite der Glocke wurden der Pastor, der Diakon und die zwei Kirchenvorsteher genannt, auf der anderen Seite der Glocke die Mitglieder das damaligen Magistrats.

Zwei Dinge sind bemerkenswert:
Erstens: Die Glocke welche die Kirchengemeinde aus dem Glockensammellager erhielt, war eine von mehreren Tausend, die beim Kriegsende noch nicht eingeschmolzen worden war. Sie stammte aus Kreuzberg im damaligen Schlesien und konnte bei Kriegsende nicht mehr zurückgegeben werden. Sie wurde wie viele andere an Kirchengemeinden in der damaligen Bundesrepublik abgegeben deren Glocken eingeschmolzen worden waren. Sie wurden als Leih- oder Patenglocken bezeichnet. Das bedeutet das die Kirchengemeinde Engerhafe nicht die Eigentümerin dieser Glocke ist, sondern sie nur leihweise nutzen darf und ihren Erhalt sicherstellen muss. Sie ist somit gewissermaßen die Patin der Glocke geworden.
Zweitens: Diese Glocke wurde in Engerhafe 1952 den Kriegsopfern und KZ-Insassen gewidmet. 7 Jahre nach Kriegsende standen die Menschen noch stark unter den Eindrücken von Krieg und Terror. Es muss ihnen wichtig gewesen sein gemeinsame Gedenkfeiern mit Überlebenden aus Konzentrationslagern zu veranstalten und „ihre neue“ Glocke den Kriegsopfern und KZ-Insassen zu widmen. Und so entstand ihre Bezeichnung als Patengedächtnisglocke die bei den Gedenkfeiern geläutet wurde.

Die gemeinsamen Gedenkveranstaltungen mit Kirchengemeinde und Überlebenden von KZ´s haben dann später aufgehört. Als Gründe können angenommen werden das Pastor Kuhnert von übergeordneten, kirchlichen Stellen nahegelegt wurde: „die Beteiligung der örtlichen Kirchengemeinde mit ihren Organen zukünftig auszuschalten, […]“. Außerdem wurde die Gedenkveranstaltung in Engerhafe von der Bezirksnachrichtenstelle Aurich (später Staatschutz) überwacht. Unter den Überlebenden aus den Konzentrationslagern befanden sich viele Angehörige der später verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands deren Aktivitäten überwacht wurden.