Ein Beitrag zur Ortsgeschichte von Engerhafe zum Volkstrauertag 2018 von Claus Dreier
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Ab dem 21. Oktober 1944 wurde in Engerhafe ein Nebenlager des Konzentrationslagers Neuengamme eingerichtet. Nördlich der Pastorei wurde dafür Kirchenland, der Spielplatz der Engerhafer Volksschule sowie ein Streifen Privatland westlich des Dodentwenter Weges benutzt.
Mitte Oktober kamen die ersten 400–500 Insassen. „Gesichert war der Komplex durch vier Wachtürme an den Ecken sowie einem oben mit Stacheldraht versehenen Maschendrahtzaun, der nachts zudem beleuchtet war… Ursprünglich war Engerhafe als provisorisches Sommerlager für bis zu 400 Arbeitsdienstler angelegt worden. Nach der Umwandlung in ein KZ-Außenlager hausten hier jedoch 2000 bis 2200 Häftlinge in drei 50 Meter langen und acht bis zehn Meter breiten ungeheizten Baracken, in denen lediglich die Betten Platz hatten. In jeder Baracke gab es 40 Schlafplätze. Jeweils drei Schlafgelegenheiten standen übereinander, und in jedem Bett schliefen zwei oder drei Männer auf Strohsäcken. Dies leistete der Ausbreitung von Krankheiten und Ungeziefer Vorschub. Für jede Schlafstelle stand zudem eine Decke zur Verfügung. Zwischen den Bettreihen gab es einen schmalen Gang. Die hygienischen Umstände im Lager waren so katastrophal, dass sich die Ungeziefer und Krankheiten rapide verbreiteten…. Das Lager… war für die Errichtung von Panzergräben rund um die Stadt Aurich zuständig. Kurz vor der Fertigstellung der Rundumverteidigung Aurichs wurde am 22. Dezember 1944 das Lager aufgelöst. Innerhalb der zwei Monate, in denen es bestanden hatte, starben 188 Häftlinge. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Engerhafe)
Die Menschen in Engerhafe – im Herbst und Winter 1944
Ich stelle mir vor – obwohl es mir gleichzeitig unmöglich erscheint – wie das Leben in den letzten Monaten des Jahres 1944 in Engerhafe für die Menschen dort gewesen ist. Es ist ein anderer Blick als der gewöhnliche, wenn über das KZ in Engerhafe geschrieben wird. Natürlich ist man meist fokussiert auf die Situation der Opfer und vielleicht noch der Täter.
Aber das Grauen, das dort geschieht, hat einen Kontext, einen Ort, an dem Menschen bis dahin in einem ganz anderen sozialen Zusammenhang leben. Natürlich sind sie geprägt von den Jahren des Nationalsozialismus, angefangen in den dreißiger Jahren, als sich vieles in Deutschland veränderte. Einige verbanden damit Hoffnung, andere waren skeptisch, wieder andere hatten Angst. 1939 begann der Krieg. Ehemänner, Väter, Söhne, Brüder, Freunde wurden eingezogen, um zu kämpfen.
Immer häufiger erreichen den Ort Nachrichten über Todesfälle, schwere Verwundungen, Vermisste. Die Propaganda hält dagegen, spricht vom Endsieg – Unrecht, Angst und Gewalt prägen die Alltage – bei den Menschen werden Hilflosigkeit, Resignation, Angst, Trauer und verzweifelte Hoffnung zur Privatangelegenheit. Öffentliche Kritik wird nicht geduldet. Zweifel an der Politik der Nazis und an ihrem Handeln werden im Keim erstickt. Wer das riskiert, riskiert sein Leben. Menschlichkeit und Recht werden zu Fremdwörtern.
Engerhafe ist in dieser Zeit ein Ort, wie viele andere in Ostfriesland auch. Das Ortsbild wird von der mächtigen Kirche geprägt, von landwirtschaftlichen Betrieben und Wohnhäusern. Das Pfarrhaus steht gegenüber der Kirche aber der Pastor ist fort, kämpft an der Front. Und er wird dort sterben.
1944 dann wird ein Lager errichtet, Baracken und Wachtürme werden gebaut. Das Gesetz an diesem Ort hat zwei Buchstaben: SS. Sie ist überall präsent, regelt, bewacht, misshandelt, foltert, tötet – willkürlich. Und das alles mitten im Dorf.
Vor den Ohren und Augen der Menschen, der alten und der jungen – vor den Kindern, die die nahe Schule besuchen, taucht die durch die Nazis bereits verunstaltete Dorfidylle nun ein in das schrecklichste Grauen.
Auf ihrem Weg zur Schule, zur Arbeit, zu Verwandten, zur Kirche passieren die Menschen das Lager. Vom Feld aus sehen sie den langen Zug der Gefangenen auf ihrem Weg nach Georgsheil zur Kleinbahn oder abends wieder zurück in das Elend des Lagers.
Sie bekommen mit, dass auf diesen Wegen, immer einige auf der Strecke bleiben. In Aurich wird der Weg zum Panzergraben verlegt, weil die Städter den Anblick und den Geruch nicht ertragen können. In Georgsheil und Engerhafe ist das nicht möglich.
Und die Menschen dort – sie schweigen. Äußerlich schweigen sie. Innerlich werden sie zerrissen. Sie haben Angst um ihre Kinder, die auf dem Schulweg manchmal heimlich Brot über den Zaun werfen – Kinder verstehen eben nicht, was Erwachsene anderen antun können. Sie wollen helfen und sie tun es, weil sie die Konsequenzen ihres Handelns noch nicht richtig einschätzen können.
Manchmal fragen heute Besucher*innen der Gedenkstätte, was denn die Bevölkerung getan hat, die doch so hautnah das alles mitbekommen hat. Was für eine Frage!
Vielleicht haben sie für die Gefangenen gebetet und ihnen so ein Stück ihrer Würde wiedergegeben, die ihnen von den Aufsehern in kurzer Zeit umfassend genommen worden war. Ich bin davon überzeugt.
Aber – nein, sie haben nicht laut protestiert, sie haben keine Befreiungsversuche gestartet. Sie haben nicht eine scharfe Protestnote an die Regierung geschrieben.
Dieser geballten Gewalt hatten sie nichts entgegenzusetzen. Sie waren verdammt dazu, auszuhalten, was ihnen – ohne ihr Zutun – mit diesem Konzentrationslager zugemutet worden war.
Und darum, sind die Menschen in Engerhafe, die dort in den letzten Monaten des Jahres 1944 gelebt haben, ebenfalls Opfer des Naziregimes. Sie sind nicht die Täter. Das Naziregime mit ihren Schergen ging über Leichen. Alle, die sich ihnen in den Weg stellten, haben sie skrupellos liquidiert.
Mag sein, es lebten auch solche im Ort, denen das Handeln der Nazis ganz recht war. Die finden sich immer. Leider. Sie dürfen aber nicht den Blick auf die „normalen“ Bürger*innen verdecken, die einfach nur durch ihren Wohnort Engerhafe auf so drastische Weise mit den Verbrechen der Nazidiktatur konfrontiert, ja berührt worden sind.
Natürlich gab es in Deutschland auch eine Widerstandsbewegung, und den Drang hier zu widerstehen haben sicher auch viele Menschen in Engerhafe empfunden. Aber innerhalb von nur drei Monaten eine angemessene Widerstandsstrategie zu entwickeln und sie umzusetzen, erscheint im Rückblick unmöglich. Dass die Bevölkerung aber trotzdem Scham und Schuld angesichts ihrer erzwungenen Untätigkeit empfunden hat, ist nur natürlich.
Im Gedenken an die Opfer des Konzentrationslagers Engerhafe, die Toten und die an Körper und Seele verletzten Gefangenen und ihre Angehörigen, sollten darum die Menschen in Engerhafe nicht vergessen werden.
Claus Dreier