Unsere Pastorin Anika Langer hat demnächst ihre Probezeit beendet. Der Kirchenvorstand freut sich, wenn sie sich dann auf die Pfarrstelle in Engerhafe bewirbt.
In alten ostfriesischen Gemeinden gibt es aber eine Besonderheit: Das Interessentenwahlrecht. Interessenten sind die Besitzer einer Herdstelle, sie besitzen einen Hof mit einem dazugehörigen Landanteil. Diese Interessenten haben seinerzeit den Bau der Kirche und des Pfarrhauses finanziert und sind somit gleichsam genossenschaftlich der Patron oder Kirchherr der Kirche.
Die wichtigste gesetzliche Bestimmung für das Wahlrecht der Interessenten in Ostfriesland sind die Konkordaten von 1599, hier wird erläutert, wer von alters her Wahlrecht hat: „Älteste“ und „Vornehmste“. Wobei unter „Älteste“ die Kirchenvorsteher gemeint sind und als „Vornehmste“ die Herdbesitzer.
Einen weiteren Versuch, Unstimmigkeiten und Streitigkeiten bei der Wahlhandlung zu verhindern, stellen die sogenannten Votantenregister aus dem Jahr 1763 dar. In jenem Jahr wurden alle reformierten und lutherischen Gemeinden Ostfrieslands aufgefordert, ein Register der Herdbesitzer anzulegen.
Die oben genannten Bestimmungen bildeten die rechtlichen Rahmenrichtlinien der einzelnen Gemeinden. Die tatsächlichen Rechtszustände differieren von Gemeinde zu Gemeinde teilweise ganz erheblich. Denn der Wandel in den Gemeinden von einer reinen Bauernschaft zur Landgemeinde führte dazu, dass in einigen Gemeinden auf die veränderten Verhältnisse reagiert wurde. Auch Handwerker und Arbeiter der Gemeinde bekamen ein Stimmrecht. Vor allem in Kirchengemeinden wo nur sehr wenige Herdbesitzer, dafür aber umso mehr Kirchenmitglieder ohne bäuerlichen Besitz ansässig waren, insbesondere auch in städtischen Gemeinden, wurde das ursprüngliche Interessentenwahlrecht verändert.
In der Kirchengemeinde Engerhafe hat man aber Wert darauf gelegt, dass weiterhin nur Bauern an der Wahl von Prediger und Organist beteiligt wurden.
Ob die ursprünglichen Votantenregister von 1763 für Engerhafe noch vorliegen, ist mir nicht bekannt. Ich kenne jedoch Listen die seit dem 19.03.1763 weitergeführt und 1970, 1990 und 2008, jeweils auf den aktuellen Stand gebracht wurden.
Außerdem existiert im Kirchenarchiv ein „Verzeichnis von den Patronalstimmen der Gemeinde Engerhafe worauf die Prediger und Organisten Wahlen abzuhalten sind“ von 1858. In diesen Listen sind alle damaligen Stimmberechtigten mit ihren Stimmanteilen aufgeführt.
Beim Vergleich der Liste von 1858 mit der Aktuellen fällt zunächst auf, dass bei zwei Hausstellen das Stimmrecht aberkannt wurde, höchstwahrscheinlich weil sie nicht mehr landwirtschaftlich genutzt wurden. Außerdem entfiel bei drei Höfen das Stimmrecht, weil sie abgebrochen wurden und kein direktes Nachfolgegebäude erstellt worden ist. Der Hof Amerland mit einer Stimme, welches früher zu Engerhafe gehörte, wird in den neueren Listen nicht mehr aufgeführt.
Das hätte dazu geführt, dass die Stimmenzahl von 1858 bis heute, von 33 ein halb Stimmen, auf 28 Stimmen reduziert worden wäre, hätte man nicht seitdem 22 Höfe, mit teils einer halben Stimme wieder zugefügt. Heute beträgt die Anzahl der Stimmen der Herdbesitzer 44.
Selbst nach 1900 sind nachweislich noch Höfe zugefügt worden. Das lässt darauf schließen, dass im Gegensatz zu den Arbeitern und Handwerkern, alle Bauern und Landwirte an der Interessentenwahl beteiligt werden sollten. Auch im Kirchenvorstand von Engerhafe saßen früher nur Landwirte. Es wurden keine Arbeiter oder Handwerker an der Führung der Kirche beteiligt.
Nun haben sich die Verhältnisse in der Kirchengemeinde seit dem 2. Weltkrieg radikal verändert. Nur ein Bruchteil der Höfe wird noch landwirtschaftlich betrieben. Die Zahl der Kirchenmitglieder, die hauptberuflich in der Landwirtschaft arbeiten, ist im Vergleich zu früher, verschwindend gering geworden. Infolge diesen Umbruchs sind sie im kirchlichen Leben auch in der Minderheit anzutreffen.
Deshalb wird auch Kritik an der Interessentenwahl laut. Dass eine Minderheit, die auch finanziell nicht mehr die Hauptlast trägt, alleine das Wahlrecht innehat, lässt sich nur schwer vermitteln.
Dennoch hat das Interessentenwahlrecht einen entscheidenden Vorteil: Während beim normalen alternierenden Pfarrstellenbesetzungsverfahren immer nur abwechselnd einmal gewählt und das andere Mal die Pfarrstelle von der Landeskirche besetzt wird, hat bei der Interessentenwahl die Gemeinde jedes Mal die Möglichkeit den Pastor zu wählen.
Um jetzt basisdemokratische Verhältnisse zu schaffen und die gesamte Gemeinde in die Pfarrwahl mit einzubeziehen, gibt es für uns nur die Möglichkeit das Wahl- und Stimmrecht bei jeder Pfarrwahl, von den Interessenten auf die Kirchengemeindeglieder übertragen zu lassen. Dazu bedarf es einer Einberufung der Interessentenversammlung in der dies beschlossen wird. Das wird in Engerhafe seit einigen Jahren praktiziert.
Um den sich ändernden Umständen in der Landwirtschaft und dem Höfesterben Rechnung zu tragen, hat der Kirchenvorstand für den Fall, dass der Hofplatz und die zugehörigen Ländereien, verschiedene Besitzer haben, beschlossen, dass das Wahlrecht ausschließlich an die alte Hofstelle gebunden ist. Das Stimmrecht verfällt, wenn auf den alten Hofflächen keine Gebäude mehr vorhanden sind.
Am 30. Juni wird wieder eine Interessentenversammlung stattfinden. Dazu werden alle infrage kommenden Personen angeschrieben werden. Dann wird der Kirchenvorstand die übrigen Interessenten bitten, das Wahlrecht auf die gesamte Gemeinde zu übertragen.
Gerd Lücken